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Laut Pierre Bourdieu setzt das unmittelbare Verstehen ein unbewusstes Verfahren der Entschlüsselung voraus, das nur dann erfolgreich ist, wenn die Kompetenz beider, desjenigen, der sie in seiner Handlung oder seinem Werk verwirklicht, und desjenigen, der sie in seiner Wahrnehmung dieses Handelns oder dieses Werkes objektiv einsetzt, zur Deckung kommt.

„Möglich und wirklich vollzogen wird das Verstehen, dieser Akt der Verschlüsselung, der sich als solcher verkennt, nur dort, wo der historisch geschaffene und fortbestehende Schlüssel, der den – unbewussten – Entschlüsselungsakt möglich macht, unmittelbar und vollständig vom wahrnehmenden Individuum (in Form kultivierter Dispositionen) beherrscht wird und im weiteren mit dem Schlüssel verschmilzt, der (in seiner Eigenschaft als kultivierte Disposition das Hervorbringen des wahrgenommenen Verhaltens oder Werkes erst ermöglicht hat.“

Bourdieu (1976/1972): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Suhrkamp, Fft./Main: 152f

Verständlich ausgedrückt bedeutet dies, Sender und Empfänger müssen sich bei der Verschlüsselung beziehungsweise Entschlüsselung einer wie auch immer gearteten Kommunikation über den verwendeten Schlüssen einig sein. Einig meint hier keine reelle Absprache, sondern einen unbewussten gesellschaftlichen Vorgang.

Verwenden beide Seiten nicht denselben Schlüssel, ist Missverständnis oder so genanntes illusionäres Verstehen die Regel. Der Irrtum in Bezug auf den Schlüssel hat die Illusion des Verstehens zur Folge, woraus wiederum Ethnozentrismus entsteht, beziehungsweise der Irrtum, man könne sich in den Anderen einfühlen.

Es ist möglich statt von einem Code von einer unbewussten Grammatik des Sozialen oder der Ebene der Kategorien sprechen. Ohne, dass sich die Mitglieder einer Gesellschaft dessen bewusst wären, liegen dem sozialen Code, der die Gesamtheit aller Praktiken in der Gesellschaft darstellt, folgende gesellschaftliche Prämissen zugrunde: die Kleiderordnung, das Konzept der Zeit, das Konzept von Arbeit, die Idee des Politischen, die Einordnung von Menschen, von Männern und Frauen, Kultur und Natur, des Erstrebenswerten und des Vermeidenswerten, des Normalen und des Abweichenden, der Natur der Wirklichkeit und dessen, was als wahr gilt. Der soziale Code ist das grundlegende Klassifikationssystem der Wirklichkeit, auf denen das Denken der Menschen über die Welt basiert. Diese Prämissen werden nie explizit erwähnt, sodass deren Herausarbeitung Aufgabe der Sozial- und Kulturwissenschaftler ist.

Wie sieht ein sozialer Code denn nun aus? Bekannt sind unter anderem Dress-Codes, zum Beispiel der Unterschied zwischen Anzug mit weißem Hemd und hohen Stiefeln und langen Kapuzenshirts. Jeder in der deutschen Gesellschaft, der soweit sozialisiert ist, dass er den Code verinnerlicht hat, erkennt die Bedeutung, die solche Kleidung trägt und weiß, in welchen Situationen sie als angemessen und in welchen sie als Provokation empfunden wird. Der Code ist kollektiv und gesellschaftlich, nicht individuell. Er umfasst die gesamte kulturelle Ordnung. Die Art, wie sich die Menschen kleiden ist zutiefst kulturspezifisch und hängt von der gesellschaftlichen Codierung ab.

"There can be no practical realities without the symbolic coding of them as practical; the theory that the social is created out of action - the day-to-day decisions of myriads of people - truly obfuscates the nature of the social.”

Cohn, Bernard S., 1990/1987: An Anthropologist among the Historians and other Essays. OUP, Delhi et al.: 40 f.

Was in der Kleidung reproduziert wird, ist in der kulturellen Ordnung begründet. Die Grundbegriffe der Zeit, des Orts und der Person sind in der hiesigen Gesellschaft ungemein zentral.

So reproduziert die Einteilung in Kleidung für die eigenen vier Wände und Ausgehkleidung das grundlegende Verhältnis öffentlich/privat oder unpersönlich/familiär. Ferner reproduziert Kleidung in ihrer Unterscheidung zwischen Frauen- und Männerkleidung die Unterscheidung zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit, wie sie in dieser Gesellschaft bekannt ist. Das heißt, es geht um einen pragmatisch-materiellen Produktionsprozess, eine Differenzierung des kulturellen Raums.

Kleidung ist klassen-, geschlechts- und altersspezifisch - soziale Kategorien aus der Gesellschaft. Dies hat jene Ideologie zur Grundlage, dass Subjekt und Objekt miteinander identifiziert werden.

Der Code ist grundsätzlich symbolisch. Symbole sind in wahrnehmbare entäußerlichte Form gefasste Abstraktion von Erfahrung. Sie sind nicht universell und beziehen sich stets auf etwas anderes. Der Code kann sich nun auf die Grammatik, die grundlegenden Kategorien der Klassifikation beziehen oder auf einen engeren Teilbereich des Gesamtkomplexes.

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