Ätiologie
Verantwortlich für die Paramyxovirose der Taube ist ein Virus: das aviäre Paramyxovirus-1 (aPMV-1).
Es wird wie folgend eingeteilt:
Ordnung: Mononegavirales
Familie: Paramyxoviridae
Subfamilie: Paramyxovirinae
Genus: Avulavirus
Spezies: aviäres Paramyxovirus
Subspezies: aviäres Paramyxovirus des Serotyp 1 (aPMV-1)
Subtyp: Taubentyp (pPMV-1) „pidgeon Paramyxo-Virus-1“
Es handelt sich um ein behülltes, nicht-segmentiertes, einzelsträngiges RNA-Virus mit einer negativen Polarität.
Epidemiologie
Erste Krankheitsfälle traten bei Tauben 1978 in der Umgebung von Bagdad im Irak bei Fleischtaubenrassen auf. Von dort erfolgte die Ausbreitung westwärts über Ägypten, Malta und Italien. In Deutschland begann die Ausbreitung 1982 im Rahmen einer Tauben- und Geflügelausstellung. Von dort aus verbreitete sich das Virus in nahezu ganz Europa durch Taubenhandel und Wettflüge mit seuchenhaftem Verlauf unter freilebenden Taubenarten.
1987 wurder der Erreger bei Tauben als Taubentyp vom aPMV-1 differenziert.
Heutzutage ist aPMV-1 weltweit verbreitet.
Hühner und Puten sind für den Taubentyp empfänglich, aber auch aus Greifvögeln konnte das Virus bereits isoliert werden.
Das zoonotische Potential der Erkrankung ist derzeit noch nicht geklärt aber es wurde von Fällen bei immunsupprimierten Menschen berichtet.
Das Virus stellt einen wichtigen wirtschaftlichen Faktor bei Nutzgeflügel und Wettkampftauben dar.
Pathogenese
Das Virus wird bereits sehr früh während der Inkubationszeit und während der ersten Krankheitstage in hohen Mengen ausgeschieden. Dabei führen bereits 100 infektiöse Viruspartikel zur Erkrankung. Sehr schnell erfolgt innerhalb eines Tages eine Virämie mit Besiedlung aller Organe. Neurologische Beteilung führt zur Beeinträchtigung der Reizweiterleitung und führt damit zu Bewegungs- und Koordinationsstörungen. Durch eine Störung der Rückresorption von Wasser aus dem Primärharn kommt es zu Polyurie, damit zu Entmineralisierung und schlussendlich zum Tod.
Allgemein sind vier Pathotypen von aPMV bekannt: velogen, mesogen, lentogen und apathogen.
Velogene Pathotypen werden durch akute Krankheitsverläufe und hohe Mortalitätsrate beschrieben. Typische Symptome sind hängende Flügel, Anorexie, gesträubtes Gefieder und Legerückgang. Es wird noch zwischen viscerotrop und neurotrop unterschieden. Der velogene viscerotrope Verlauf führt meistens zu grünlich-gelblichen Durchfällen, die auch blutig sein können. Beim velogenen neurotropen Verlauf werden in der ersten Woche eher respiratorische Symptome hervorgerufen, wie zum Beispiel Atemnot, Schnabelatmung und –ausfluß, Lidödeme und zyanotische Verfärbung des Kammes. In der zweiten Woche wird das ZNS betroffen und es kann zu Tortikolis, Opistotonus, Ataxien und Paralysen kommen. Im Gegensatz zu der ersten Woche ist die Mortalität nur noch gering. Allerdings verenden die Tiere nach drei bis vier Woche aufgrund von Abmagerung.
Mesogene Pathotypen wirken hingegen altersabhängig. Sie weisen eine hohe Morbidität bei Küken (bis zu 100%) auf während nur ca. 50% adulter Tiere erkranken.
Die Mortalität ist auch eher gering (5-50%). Eine reduzierte Futteraufnahme und Legeleistung sind zu erwarten.
Lentogene Pathotypen zeigen in der Regel keine klinischen Symptome und werden daher als Impfstämme eingesetzt. Bei Küken können milde respiratorische Symptome beobachtet werden.
Apathogene Pathotypen sind noch weniger pathogen als lentogene Erreger. Der Erreger persistiert meistens im Intestinaltrakt und beeinträchtigt nicht die Legetätigkeit. Es kommt also zu einer Dauerausscheidung, was zu einer unbemerkten Durchseuchung führt.
Die Taubenvariante des aPMV-1 ist auf Grund seines intrazerebralen Pathogenitäts-Index und seiner Mean-Death-Time als mesogen einzustufen.
Die Aufnahme des Virus erfolgt entweder fäkal-oral oder aerogen durch Inhalation, über die Schleimhäute des Respirations- bzw. Verdauungstraktes.
Das Virus wird über Sekrete (Speichel, Nasensekret, Konjuktivalflüssigkeit), Kot oder Urin (Niere) ausgeschieden.
Die Hülle des Virus enthält zwei wichtige transmembrane Glycoproteine, die als Spikes aus der Hülle herausragen:
das Hämagglutinin-Neuraminidase-Protein (HN-Protein) und das Fusionsprotein (F-protein).
Das HN-Protein bindet an sialinsäure-haltige Rezeptoren der Wirtszelle und dient der Adsorption des Virus.
Das F-Protein induziert die Membranverschmelzung und ermöglicht das Eindringen des Virus in die Wirtszelle.
Die indirekte Infektion erfolgt über stechend-saugende Vektoren und führt zu einer Virämie.
Als Reservoire dienen Stadttauben, Wildtauben, andere Wildvögel.
Klinik
Die klinischen Symptome lassen sich in vier Formen einteilen:
Polyurieform
Die Polyurieform hat eine Inkubationszeit von 3-5 Tagen. Hier ist die Nierenfunktion gestört. Sie äußert sich durch Orientierungsschwierigkeiten und der Ausscheidung von flüssigem, z.T. grünlich verfärbtem Kot. Letzterer wird hauptsächlich durch die wässrige Harnausscheidung verursacht. Die Orientierungsschwierigkeiten äußern sich in plötzlichem Stehenbleiben, gegen Wände laufen, Stolpern, Körner beim Picken verfehlen und starrem Blick.
ZNS-Form
Etwa drei Wochen nach der Infektion zeigen sich die Symptome der ZNS-Form. Hier zeigen die Tauben einen Opisthotonus sowie einen Torticollis. Dabei wird der Kopf um bis zu 180 ° gedreht. Umgangssprachlich werden die Tiere auch “Dreher” genannt.
Weitere Symptome der Tiere sind Gleichgewichtsstörungen, Seitwärtsgehen und Anfälle, wenn die Tiere erregt werden. Die Anfälle können durch plötzliche laute Geräusche ausgelöst werden. Dabei liegen die Tiere bis zu 30min krampfartig mit ausgestreckten Beinen auf dem Rücken. Da keine Genesung eintritt, müssen diese Tiere euthanasiert werden.
Lähmungsform (Flügel und/oder Beine)
Bei der Lähmungsform treten die ersten Symptome etwa 1-2 Wochen post infektionem auf. Es kommt zu einer meist einseitigen schlaffen Lähmung der Beine und Flügel und zum Festliegen. Damit einhergehend kommt es zum Unvermögen, Futter und Wasser aufzunehmen und schlussendlich zum Tod durch Dehydratation. Manuell getränkte Tiere überleben, genesen aber nicht.
asymptomatische Form
Die asymptomatische Form ist der wichtigste Faktor in der Weiterverbreitung der Viren, da sie über Wochen unbemerkt ausgeschieden werden. Die infizierten Tiere zeigen keine Symptome, haben jedoch gegebenenfalls Antikörper gebildet.
Diagnose
Das klinische Bild auf Bestandsebene, bestehend aus Polyurie, Bewusstseinsstörungen, schlaffe Lähmung der Gliedmaßen und ZNS-Symptomen ist hinweisend für eine Infektion mit aPMV-1 Virus.
Um den Verdacht auf Paramyxovirose zu bestätigen, ist ein Erregernachweis notwendig.
Die Virusisolierung erfolgt in der Inkubationszeit und im frühen Infektionsstadium. Dazu wird beim lebenden Tier eine Tupferprobe aus dem Pharynx und der Kloake gewonnen.
In späteren Infektionsstadien, insbesondere wenn bereits neurologische Symptome vorliegen, gelingt die Virusanzucht nicht mehr.
Eine Möglichkeit der Erregeridentifizierung ist die Diagnostik über eine PCR.
Eine untergeordnete Rolle in der Diagnostik bei verendeten Tieren spielen der Serum-Antikörper-Nachweis mittels Hämagglutinationstest und der Hämangglutinationshemmtest. Erst werden in der Sektion Nieren, Darm und Trachea sowie andere deutlich veränderte Organe entnommen.
In einem SPF-Hühnerei wird das Virus angezüchtet und isoliert. An diesem Isolat wird ein Hämagglutinationstest (HA-T) durchgeführt. Ist dieses positiv, ermittelt man im Anschluss den Serotypen über den Hämagglutinationshemmtest (HAH-T).
Des Weiteren finden auch der Virusneutralisationstest und der ELISA Anwendung.
Die Abgrenzung von pPMV gegenüber aPMV erfolgt mittels monoklonaler Antikörper oder molekularbiologischer Methoden, wie der Sequestrierung von Teilen des F-Gens.
In der Histologie des zentralen und peripheren Nervensystems, jedoch besonders am Ventralhorn des Rückenmarks, zeigen sich perivaskuläre lymphozytäre Infiltrate, Status spongiosus sowie Neuropil- und Ganglienzelldegeneration.
Die Diagnostik ist tierseuchenrechtlich relevant für die Abgrenzung von der Infektion mit dem verwandten velogenen Virus der Newcastle Krankheit (Newcastle-disease-Virus), welche anzeigepflichtig ist!
Differentialdiagnose
- New Castle Disease (ANZEIGEPFLICHT)
- Klassische Geflügelpest (ANZEIGEPFLICHT)
- aviäre Enzephalomyelitis
- Salmonellose
- Aspergillus
- Sarkozysten → Sarcocystis calchasi
- Vergiftung
- (Chlamydiose)
Therapie
Es sind derzeit keine Medikamente verfügbar. Es kann eine Immunstimulation (u.a. durch Vitamingaben) versucht werden, um die körpereigene Abwehr zu fördern. Eine assistierte Fütterung ist in vielen Fällen, besonders bei der Lähmungsform, bis zur Besserung notwendig. Es ist hilfreich, den Tieren eine reizarme, abgedunkelte Umgebung zu schaffen (Stressminderung und Vermeidung von Anfällen). Infolge anhaltender Polyurie kommt es mit der Zeit zu Demineralisation und Dehydratation. Eine vollständige Heilung tritt nur selten ein, so dass die Prophylaxe durch die Impfung deutlich anzuraten ist. Die Euthanasie betroffener Tiere bleibt häufig als letzte Alternative.
Prophylaxe
Zur Vorbeugung einer Infektion gibt es für privat gehaltene Tauben einen Impfstoff. Die Brieftaubenverbände schreiben die Durchführung der Impfung für ihre Mitglieder vor.
Rechtlich besteht eine Impfpflicht in Deutschland nur für Hühner und Puten, jedoch nicht für Tauben. Allerdings können die Veterinärämter Ausstellungen und Wettflüge bei erhöhtem Risiko untersagen.
Jungtauben impft man in der vierten Lebenswoche. Alttauben werden acht Wochen vor einer Reise bzw. acht Wochen vor Anpaarung geimpft. Die Injektion wird s.c. in die Kniefalte verabreicht. Bei der risikoreicheren Injektion im Halsbereich in die Nackenfalte ist streng auf die Applikation in der Medianen des mittleren Halsbereiches zu achten, da es teilweise zu starker Abszess- oder Granulombildung kommen kann.
Lediglich bei der Impfung mit einem Totimpfstoff bildet sich eine ausreichende Immunität aus.
Klinisch erkrankte Bestände sind nicht zu impfen, da dies zu einer vermehrten Ausscheidung des Feldvirus führt und sich die klinischen Symptome verschlimmern.
Weitere Prophylaxemaßnahmen sind die Isolation erkrankter Tiere in Quarantäne.
Um die restliche Population oder auch andere Vogelarten zu schützen, raten viele Tierärzte jedoch zur Euthanasie der betroffenen Tiere.
Des Weiteren unterliegt der Bestand in Deutschland, Österreich und der Schweiz einem Verbringungsverbot für 60 Tage nach Abklingen der klinischen Symptome.
Eine ausreichende Reinigung und Desinfektion nach Geflügelpest-VO §13 ist vorgeschrieben.
Prognose
Mäßig bis schlecht, je nach Schwere der Symptome. Bei „Päppeln“, zeigen viele der Tauben laut Erfahrungsberichten von privaten Pflegern nach 3 - 4 Wochen keine klinischen Symptome mehr. Allerdings ist aus klinischer Sicht die Heilungswahrscheinlichkeit als eher gering einzustufen. Die Ausscheidung von Virusmaterial ist nicht genügend erforscht. Eventuell sind erneute Ausbrüche durch Reinfektion bzw. rezidivierendes Krankheitsgeschehen möglich (nicht erforscht).
Literatur/Weblinks
- Erhard F. Kaleta „Kompendium der Ziervogelkrankheiten“ 4. Auflage, Schlütersche Verlag
Huthmann, Eva. “Untersuchungen an Ringeltauben (Columba columbus) zum Nachweis von Infektionen mit dem aviären Paramyxovirus 1 (APMV-1).” Ludwig-Maximilians-Universität München, 2009. Print.
Schmellekamp, Anya. “Untersuchungen zur Wirksamkeit einer homologen Ölemulsionsvakzine gegen die Paramyxovirose der Tauben basierend auf einem schwach virulenten Tauben-Stamm (P201)" Ludwig-Maximilians-Universität München, 2005.
Selbitz, H., Truyen, U., Valentin-Weigand, P.; 2015; “Tiermedizinische Mikrobiologie, Infektions- und Seuchenlehre”; 10. Auflage; Enke Verlag Stuttgart
Plakat von Boehringer Ingelheim Vetmedica GmbH 2007-2014
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