Marx zu Religion

"Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d'honneur |Ehrenpunkt|, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.
Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes."

Marx, Karl (1976[1844]): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Ders. und F. Engels: Werke, Berlin: Dietz, S. 378, verfügbar auf: http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_378.htm (letzter Zugriff: 30.04.10, 13:00).

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Kommentar

  1. Nur noch ein kleiner Nachtrag zum letzten Absatz:

    Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.

    Hier blickte Marx durch die eurozentristische Brille, was wohl auch seiner Zeit geschuldet ist. Er verweist hier, sehr wahrscheinlich, auf die Anfänge des Christentums, als es noch Ausdruck des Protestes gegen das römische Reich war. Diese zeitlich eingeschränkte Interpretation wurde auch in marxistischen Schulen kritisiert:

    "Im Laufe der Zeit ändert sich jedoch die gesellschaftliche Funktion und gesellschaftliche Lehre dieser Religion: Sie pervetiert zur Ideologie der Herrschenden und sanktioniert die Unterdrückung und Ausbeutungspraktiken der gesellschaftlich und wirtschaftlich dominierenden Klasse." (Rosen, Ziv: Max Horkheimer; C.H.Beck`sche Verlagsbuchhandlung, München 1995)

    "Mar-cuse showed in his early study on authority and family (1936), how religion was transformed finally to an ideology of bourgeois society by the development of protestantism (Luther) and especially Calvinism. And for Marcuse religion is nothing but a less and less important part of "affirmative culture" (1937, 1965)." (http://soziologie.soz.uni-linz.ac.at/sozthe/staff/moerthpub/CriticalTheory.pdf)

    Neben Horkheimer's "Ideologie der Herrschenden" und Marcuse's "affirmative culture" definiert Adorno Religion als "ideological glue, reproducing the status quo in the heads of "one-dimensional" people." (ebd.), womit auch dem Aspekt der Gemeinschaft Rechnung getragen wird.

    Auch in moderneren marxistischen Schulen verbleibt die Religion in der Sphäre des Überbaus.