Als Wissenschaftler_innen im 19. Jahrhundert begannen sich mit dem Thema Religion zu beschäftigen, entstand Bowie (2000: 22f) zufolge eine Unterscheidung von Weltreligionen zu anderen Religionen. Obwohl der Begriff Weltreligion nicht genau definiert werden konnte, wurden andere Religionen im Gegensatz hierzu als ursprünglich oder wild betrachtet. (ebd.) Die sog. Weltreligionen wurden in höhere und niedere Religionen unterteilt, je nachdem wie nah oder fern sie den drei semitischen Religionen, dem Judentum, dem Christentum und dem Islam, standen. Die Nähe zu den erwähnten drei Religionen definierte andere Religionen als höherwertig. (ebd.: 23)

Inzwischen wird von dieser Kategorisierung abgesehen und laut Bowie werden von Wissenschaftler_innen der Theologie und der Religionswissenschaften 5 Kriterien verwendet, anhand derer die Unterscheidung zwischen Weltreligionen und den so genannten „ursprünglichen Religionen“ stattfindet,. Die aufgeführten Kriterien stellen binäre Oppositionen dar, weswegen diese Kategorisierung m.E. von „westlichen“ Wissenschaftler_innen vorgenommen wurde.

Folgende Kriterien werden im Text von Bowie benannt und sollen hier aufgeführt werden. Dabei wird die linke Seite des Blattes den Weltreligionen und die rechte Seite den anderen Religionen zugeordnet.

Schriftliche Überlieferung/ Ausübung

Mündliche Überlieferung/ Ausübung

Geistlich (ein Erlöser einer anderen Welt wird erwartet)

weltlich

Sind universal oder könnten es sein

Begrenzen sich auf eine Gruppe und/ oder Sprache

Können eine „ursprüngliche Religion“ einschließen

Sind Basis für die Entwicklung der Weltreligionen

Abgetrennter Aktionsbereich der Religion

Keine Trennung zwischen religiösem und sozialem Bereich, dadurch keine klare Trennung von sakralem und profanem Bereich.

(Bowie 2000: 23)

Bowie ist der Meinung, dass diese Kategorisierung eher einem geistigen Konstrukt als der Realität entspricht. Der Konfuzianismus beispielsweise wird als Weltreligionen anerkannt, die Ausbreitung beschränkt sich jedoch auf Südostasien und er kann nicht getrennt von der Idee der sozialen Ordnung in China betrachtet werden, weswegen Bowie seine Universalität anzweifelt. Im Gegensatz dazu stellt sich Bowie die Frage, ob das Judentum mit seiner Idee der matrilinearen Vererbung als universal betrachtet werden kann. Nach Bowie sind es die Gläubiger der verschriftlichten Religionen selbst, die einen starken Einfluss der Religion in ihrem Alltag fordern. (Bowie 2000: 24)

Bowie stellt sich weiterhin die Frage, welche Gemeinsamkeiten Weltreligionen haben und ob „ursprüngliche Religionen“ diese Gemeinsamkeiten nicht aufweisen. Dabei verweist Bowie auf die Beziehung von Religion und kulturellen Phänomenen, egal ob bei Weltreligionen oder „ursprünglichen Religionen“. Auf der einen Seite gibt es verschiedene Gemeinschaften, die einer gemeinsamen Religion angehören. Auf der anderen Seite werden verschiedene Religionen innerhalb einer Gemeinschaft ausgeübt. Laut Bowie gibt es hierin keinen Unterschied zwischen den Kategorien Weltreligionen und „ursprünglichen Religionen“. (ebd.) Eine Ausnahme scheinen diejenigen neuen religiösen Bewegungen zu sein, die sich selbst als Pagans (im Deutschen: (Neu-) Heiden) bezeichnen. Diese Bewegungen überschreiten kulturelle und sprachliche Grenzen von Gemeinschaften und berufen sich dennoch auf die Wichtigkeit der Zugehörigkeit zu bestimmten Orten und Lokalitäten wie in den „ursprünglichen Religionen“. Sie betonen den mündlichen und lokalen gegenüber dem schriftlichen und universalen Aspekt. Gläubiger von Weltreligionen, sowie Menschen, die sich bisher zu keinem Glauben bekannt haben, treten zu diesen Bewegungen über. Dies ist laut Bowie normalerweise ein Charakteristikum für Weltreligionen. Darüber hinaus wird eine weitere Entwicklung deutlich, die das Weltbild der Pagans betrifft. Pagans glauben an ein pantheistisches Weltbild und nicht an ein Weltbild mit der Erlösung Gottes wie in den Weltreligionen. Gott ist in der pantheistischen Weltsicht nicht personifiziert und allmächtig, sondern eins mit dem Kosmos und der Natur.

Stevens präsentiert in der Einleitung des Sammelbandes Anthropology of Religion, ein Modell mit dem eine weitere Unterscheidung zwischen Religionen möglich wird. Dabei ist das Modell laut Stevens nicht auf alle, aber auf einen großen Teil der Kosmologien anwendbar. Er spricht von vertikalen und horizontalen Beziehungen. Die vertikalen Wechselbeziehungen bestehen zwischen den Menschen und einem Allmächtigen, sowie anderen Göttern, Helden, Ahnen, Geistern und anderen spirituellen Wesen, wobei sich die Geister und spirituelle Wesen auf der Ebene der Menschen befinden. Bei den horizontalen Wechselbeziehungen handelt es sich um Beziehungen zwischen Menschen und Hexen bzw. Kräften, die wirken. Dabei erwähnt Stevens, dass die Religionen des „Westens“ auf die vertikalen Wechselbeziehungen ausgerichtet sind und Religionen mit horizontalen Wechselbeziehungen als Aberglaube betrachtet werden. Dies sei nicht immer so gewesen: vor drei Jahrhunderten hatten die horizontalen Wechselbeziehungen im Westen ebenfalls eine Bedeutung. (Stevens 2011: 41ff) Diese Unterscheidung führt m.E. jedoch ebenfalls zu einer bewussten, wertenden Trennung zwischen den Religionen.

Religion in Kategorien zu fassen ist nach Meinung der Verfasserin nur anhand von Definitionen möglich. Dabei sollte der Personenkreis berücksichtigt werden, der solche Definitionen für Religionen festlegt. Gerade in Bezug auf eine anthropologische Sichtweise ist es schwierig, Religion als starres Gebilde zu verstehen. Vielmehr ist Religion und somit auch die Kategorisierung von Religionen von verschiedenen Faktoren abhängig. Diese Faktoren sollten bei der Kategorisierung benannt werden.

Auch James Mackey plädiert für eine flexiblere und nicht so dogmatische Definition von Religion indem er Ludwig Feuerbach zitiert: „What today is atheism tomorrow will be called religion.“ (Feuerbach 1957: 32 in Mackey 1996: 9 in Bowie 2000: 25). Diesem Ansatz folgt auch Bowie, in dem sie auf die Gefahr der Kategorisierung von Religion aufmerksam macht. Für sie ist Religion wandelbar, kontextabhängig und entsteht als Forschungsobjekt aus einem Prozess der Interpretation heraus. (Bowie 2000: 25)

Quellenangaben:

Bowie, Fiona 2000: The Anthropology of Religion. An Introduction. Malden, Oxford, Victoria: Blackwell Publishing Ltd.

Stevens Jr., Phillips 2011: Anthropology of Religion. Critical Concepts in Religious Studies. Abingdon, New York: Routledge Taylor and Francis Group.

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