Studies in the Logic of Explanation (Hempel und Oppenheim 1948)
Wissenschaftliche Erklärung ("to answer the question 'why?' rather than only the question 'what?'") ist, so Hempel und Oppenheim, unstrittig ein bzw. vielleicht sogar das hauptsächliche Anliegen der Wissenschaft. Gefragt werden kann in diesem Kontext dann genauer 1) nach der Funktion wissenschaftlicher Erklärung, und 2) nach den Eigenschaften wissenschaftlicher Erklärung.
Hempel und Oppenheim entwickeln in diesem klassischen Text von 1948 kein neues Konzept wissenschaftlicher Erklärung, sondern greifen eine sogar gängige Ansicht der Zeit auf, präzisieren diese aber erstmals in Ansätzen mittels einer genauen formalen Beschreibung, einer "Logik" der wissenschaftlichen Erklärung.
Der Essay von Hempel und Oppenheim ist aufgeteilt in
- einen grundlegenden Abriss des DN-Modells wissenschaftlicher Erklärung,
- einen (interesssanten) Exkurs in das Konzept der Emergenz und die Erklärbarkeit emergenter Eigenschaften,
- eine präzisere Untersuchung der logischen Probleme von wissenschaftlicher Erklärung,
- ein Vorschlag für eine Definition der erklärenden Stärke (explanatory power) einer wissenschaftlichen Theorie.
Die Einstiegsbeispiele von Hempel und Oppenheim
Bsp. 1: Quecksilberthermometer in Heißwasser
Wir machen folgende Beobachtung: Wenn ein Quecksilberthermometer in heißes Wasser gelassen wird, sinkt die Quecksilbersäule zunächst, bevor sie dann schnell in die Höhe geht.
Wenn wir diese Beobachtung erklären wollen, sagen wir etwas der Art: Zuerst erwärmt sich nur das Glas des Thermometers, welches sich daher ausdehnt – das Quecksilber hat einen größeren Raum zur Verfügung, d.h. steht weniger hoch. Wenn dann aber auch das Quecksilber von der Wärme erfasst wird, dehnt sich dieses aus, und zwar schneller oder stärker als das Glas sich ausgedehnt hat – demenstprechend steigt dann der Spiegel.
Laut Hempel und Oppenheim lässt sich eine solche "umgangssprachliche" Erklärung jetzt in eine gewisse Standardform bringen, die ihren essentiellen Gehalt erfasst. Eine solche standardisierte Erklärung besteht aus zwei Arten von Aussagen: Zunächst diejenigen über die "Vorbedingungen" des beobachteten Phänomens – in diesem Fall die Beschaffenheit des Thermometers sowie das, was mit ihm geschieht, also das ins-heißes-Wasser-Lassen. Die zweite Art von Aussagen sind "general laws", in diesem Fall physikalische Gesetze bezüglich den Grad der Wärmeausdehnung von Glas und Quecksilber, sowie ihre Wärmeleitfähigkeit.
Bsp. 2: Lichtbrechung eines Ruders im Wasser
Wir machen folgende Beobachtung: Von einem Ruderboot ausgesehen, sieht das Ruder im Wasser "abgeknickt" aus.
Wiederum bringt eine (in Standardform gebrachte, d.h. insbesondere alle oft implizit gelassenen Prämissen explizit gemacht) Erklärung zwei Arten von Aussagen zusammen: Vorbedingungen (jemand ist im Ruderboot und guckt auf sein ins Wasser getauchtes Ruder), und allgemeine (physikalische) Gesetze bzgl. der Lichtbrechung und der Dichte von Wasser und Luft.
Diese beiden Arten von Aussagen zusammen haben als logische Konsequenz eine Aussage, die das beobachtete Phänomen beschreibt, sie bilden also ein deduktives Argument aus Sätzen, die jeweils Vorbedingung, zu erklärendes Phänomen und ein allgemeines Gesetz beschreiben.
Ein (individuelles) Ereignis wird also jeweils erklärt, indem es subsumiert wird unter ein allgemeines Gesetz, unter Zuhilfenahme der zugehörigen Vorbedingungssätze.
Selbiges funktioniert auch, wenn wir nicht individuelle Ereignisse betrachten, sondern allgemeine Gesetze unter allgemeinere, breiter gefasste Gesetze subsumieren. Hempel und Oppenheim geben hierzu als Beispiel Galieos Gesetze zum freien Fall in Bezug auf Newtons Gesetze der Bewegung und Schwerkraft. Erstere folgen aus letzteren, wenn wir bestimmte Vorbedingungen zugestehen, u.a. die Masse der Erde.
Logische und empirische Adäquatheitsbedingungen und das "grobe Schema"
Eine Erklärung ist also ein Argument, bestehend aus Explanandum (das zu Erklärende, d.h. die Konklusion) und Explanans (das zur Erklärung herangezogen, d.h. die Prämissen). Diese sind jeweils (Mengen von) Sätzen (so ist das Explanandum nicht etwa das Phänomen selbst, sondern ein Satz, der dieses beschreibt).
Der Explanans ist aufgesplittet in antecedent conditions und general laws.
Logische Adäquatheitsbedingungen
Hempel und Oppenheim versuchen jetzt, Bedingungen zu geben, die Explanandum und Explanans erfüllen müssen, um eine adäquate wissenschaftliche Erklärung abzugeben. Die erste Klasse dieser Bedingungen beziehen sich rein auf die logische Struktur des Arguments sowie der darin enthaltenen Sätze.
- Das Explanandum muss die logische Konsequenz des Explanans sein.
- Der Explanans muss allgemeine Gesetze enthalten, die für den Schluss auf das Explanandum notwendig sein müssen – d.h. wir können nicht einfach ein Argument basteln, dass von Einzelaussagen auf eine Einzelaussage schließt, und dann einfach noch ein Gesetz einfach als zusätzliche Prämisse anfügen, um eine Erklärung zu erhalten.
- Der Explanans muss empirischen Inhalt haben, d.h. prinzipiell durch Experimente oder Beobachtung getestet werden können (implizit in 1., weil das Explanandum ein empirisches Phänomen beschreibt, und daher aus etwas folgen muss, dass ebenfalls mindestens eine empirische Aussage hat).
Empirische Adäquatheitsbedingung
Abgesehen von den logischen Strukturbedingungen gibt es in der ursprünglichen Version des DN-Modells genau eine tatsachenabhängige Adäquatheitsbedingung:
- Die Sätze, aus denen der Explanans besteht, müssen wahr sein. (Im DN-Modell folgt dann daraus, dass auch das Explanandum wahr ist, weil es ja deduktiv daraus geschlossen wird. Im IS-Modell ist dieser Schluss nicht zulässig.)
Diese Bedingung ist nicht ganz ohne: Sie hat Konsequenzen für die Einschätzung von dem, was tatsächlich in der Wissenschaft alltäglich geschieht. Und zwar gibt es laufend Verbesserungen bzw. Wechsel der momentan von der Wissenschaft akzeptierten, gängigen Erklärungen. Wenn wir die empirische Adäquatheitsbedingung akzeptieren, heisst das also, dass strenggenommen in diesem Fall nicht alle dieser "Erklärungen" tatsächlich Erklärungen waren: Wenn wir etwa unterschiedliche, widersprüchliche (da "verbesserte" etc.) Theorien über physikalische Gesetze haben, dann ist es nicht nur so, dass nur eines dieser Gesetze wahr ist (das scheint mir sehr plausibel), sondern alle Erklärungen, die wir mit solchen unwahren Gesetzestheorien angestellt haben, waren strenggenommen gar keine Erklärungen. Wir können stattdesssen nur sagen, dass der damalige Stand der Erfahrung es wahrscheinlich gemacht hat, dass es eine wirkliche ("sound" bzw. "correct") Erklärung war, jetzt aber die neue Erfahrung es wahrscheinlich macht, dass der Explanans nicht wahr war, und es also keine wirkliche Erklärung war. In späteren Texten schwächt Hempel allerdings diese Bedingung ab bzw. differenziert zwischen "wahren" Erklärungen und "empirisch bestbestätigten" potentiellen Erklärungen (potentielle Erklärungen sind solche, die zwar auch eine allgemeine nomische Prämisse enthalten, wobei diese aber sowohl wahr als auch falsch sein kann.)
Äquivalenz von wissenschaftlicher Vorhersage und Erklärung
Wichtig scheint mir der Abschnitt, in dem Hempel und Oppenheim die Äquivalenz von Vorhersage und Erklärung behaupten. Jede Erklärung kann auch als eine Vorhersage fungieren, die Unterscheidung betrifft nicht die logische Struktur des jeweiligen Arguments, sondern ist eine Unterscheidung von "practical character", bzw. hängt vom jeweiligen Blickwinkel oder Kontext ab. In einer Fußnote akzeptieren Hempel und Oppenheim hier die Synonymität von Erklärung und "postdictability" – d.h. Vorhersage/prediction ist zukunftsausgerichtet, Erklärung/postdiction ist in die Vergangenheit gerichtet. Dies revidiert Hempel später und trennt Erklärung scharf von diesen zeitlichen Einschränkungen. "Postdictability" bzw. Retrodiktion, und Prädiktion sind dann die Argumente, wo das Explanans gegeben war, und Erklärung solche, wo zuerst das Explanandum gegeben war. Prädiktion schließt dann auf ein Explanandum, das in der Zukunft liegt, während Retrodiktion auf ein Explanandum schließt, dass in der Vergangenheit liegt, und während für eine Erklärung stattdessen andersherum vom gegebenen Explanandum ausgehend ein passender Explanans gesucht werden muss, unabhängig von der Zeitlichkeit der Komponenten.
Laut Hempel und Oppenheim resultiert die Wichtigkeit von Erklärung für die Wissenschaft aus dieser Äquivalenz zur Vorhersage, ermöglicht uns, neue Theorien zu entwickeln, zu testen etc. Gängige Erklärungsmodelle, die ohne diese Verbindung zu Vorhersagen auskommen, lehnen Hempel und Oppenheim als zu schwach ab.
Implizite Prämissen
In vielen alltäglichen, aber auch wissenschaftlichen Erklärungen scheint einer der beiden Komponenten zu fehlen, d.h. entweder das Gesetz oder die Antezedenzbedingung wird (weil es "offensichtlich" erscheint) implizit gelassen, ob nun bewusst oder unbewusst.
Das DN-Modell ist ein Modell kausaler Erklärung
Interessanterweise setzten Hempel und Oppenheim deduktiv-nomologische Gesetze mit deterministischen Kausalerklärungen gleich. Dabei soll gerade die Stringenz des deduktiven Schlusses der passende Ausdruck sein für die Kausalverbindung. Das Verständnis von Kausalität geht also grob in die Richtung von "immer wenn Ereignisse der Art A geschehen, geschehen auch Ereignisse der Art B", und durch die deduktiv-nomologische Verknüpfung wird dies (anstelle einer bloßen Humeschen Regulariät) in einen logischen Zusammenhang zwischen diesen Ereignisarten übersetzt.
An diesem Punkt unterscheidet sich die DN-Erklärung wiederum von IS-Erklärungen, die Hempel und Oppenheim explizit von Kausalität abgrenzen. Kausale Gesetze, so scheint die Annahme zu sein, sind determinisistische Gesetze, nicht probabilistische.
Die Logik von Gesetzen und Erklärungen
Interssant ist im weiteren Verlauf des Textes vor allem die Diskussion der Bedingungen für Allgemeine Gesetze.
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