Ansätze und Definitionen
Bronislaw Malinowski
"Myth (...) is not merely a story told but a reality lived. It is not of the nature of fiction. [...] Myth (...) expresses, enhances, and codifies belief; it safeguards and enforces morality; (...) and contains practical rules for the guidance of men. Myth is thus a vital ingredient of human civilization; it is not an idle tale, but a hard-worked active force; it is not an intellectual explanation or an artistic imagery, but a pragmatic charter of primitive faith and moral wisdom."
aus: Malinowski, Bronislaw (1954[1926]): Magic, Science and Religion, and other Essays, S. 100 f.
Ernst Cassierer
Im zweiten Band seines Hauptwerks "Philosophie der symbolischen Formen" widmete sich der Philosoph Ernst Cassierer (1874-1945) dem mythischen Denken.
Es gibt hier niemals bloß geometrische oder bloß geographische, bloß ideell gedachte oder bloß empirisch wahrgenommene Unterschiede; sondern alles Denken wie alles sinnliche Anschauen und Wahrnehmen ruht auf einem ursprünglichen Gefühlsgrund. In ihm bleibt der mythische Raum, wieweit auf die Besonderung und Verfeinerung seiner Struktur fortschreiben mag, als Ganzes nach wie vor eingebettet und gleichsam versenkt. Zu der Setzung bestimmter Abgrenzungen und Unterscheidungen in diesem Raume gelangen wir demgemäß nicht auf dem Wege der fortschreitenden gedanklichen Bestimmung, auf dem Wege der intellektuellen Analyse und Synthese, sondern die Differenzierungen des Raumes gehen zuletzt auf Differenzierungen zurück, die sich in eben diesem Gefühlsgrund vollziehen. Die Orte und Richtungen im Raume treten auseinander, weil und sofern mit ihnen ein verschiedener Bedeutungsakzent sich verknüpft, weil und sofern sie mythisch in verschiedenem und entgegengesetztem Sinne gewertet werden. In dieser Wertung vollzieht sich ein spontaner Akt des mythisch-religiösen Bewußtseins; aber zugleich knüpft sie, objektiv betrachtet, an eine bestimmte physische Grundtatsache an. Die Entfaltung des mythischen Raumgefühls geht überall von dem Gegensatz von Tag und Nacht, von Licht und Dunkel aus. (S. 119)
Den Wandel des Tages in die Nacht, das Erblühen und Vergehen der Pflanzenwelt, die zyklische Folge der Jahreszeiten: dies alles begreift das mythische Bewußtsein zunächst nur dadurch, daß es alle diese Erscheinungen auf das Dasein des Menschen projiziert und in ihm wie im Spiegel erblickt.“ (S. 135)
Der Gebrauch des Feuers wie die Verfertigung bestimmter Werkzeuge, [...], die Kenntnis einzelner Heilmittel oder die Erfindung der Schrift: dies alles erscheint als ein Geschenk mythischer Mächte. Der Mensch begreift auch hier sein Tun nur dadurch, daß er es von sich entfernt und nach außen projiziert: und aus dieser Projektion geht die Gestalt Gottes hervor, in der er nicht mehr als bloße Naturmacht, sondern als Kulturheros, als Licht- und Heilsbringer erscheint.“ (S. 244)
aus: Cassirer, Ernst (1987): Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das Mythische Denken. 8., unveränderte Auflage. Darmstadt.
Kurt Hübner
In seinem Werk "Die zweite Schöpfung: das Wirkliche in Kunst und Musik" befasst sich der Philosoph Kurt Hübner mit keinem speziellen Mythos, sondern mit dem Mythischen als allgemeine Struktur, die den Mythen zugrundeliegt bzw. aufgrund derer wir etwas als Mythos bezeichnen. Das Mythische sei dabei vor allem durch die Einheit von in unserem Denken eigentlich getrennter Sphären gekennzeichnet.
Erstens: Alles Ideelle wird darin zugleich als etwas Materielles aufgefaßt, alles Materielle als etwas Ideelles. Im ersten Falle z.B., wenn die Weisheit, die Liebe, die Gerechtigkeit usw. in bestimmten Göttergestalten körperliche Gestalt annehmen; im zweiten, wenn Gestirne, die Erde, das Meer usw. durch Götter personifiziert werden. Zweitens: Entsprechend wird alles abstrakt und allgemein mit einem Begriff Gedachte zu etwas Konkretem und Individuellem, und umgekehrt wird alles konkret Individuelle zu etwas Abstraktem und Allgemeinem. So wird etwa der Begriff der Liebe synonym mit dem Namen der Liebesgöttin (Venus) […]. Eben dadurch aber besitzen auch jeder Gott und jede Göttin, obgleich Individuen, eine Allgemeinheitsbedeutung: Überall, wo Menschen in Liebe entbrennen, sind die Liebesgöttin oder der Liebesgott anwesend, überall, wo die Kriegsfurie herrscht, ist der Kriegsgott. Aus all dem folgt: Drittens: Subjekt und Objekt werden im mythischen Denken nicht scharf geschieden. Das Objekt erscheint stets nur im Medium des Subjektiven („Anthropomorphen“). So trägt beispielsweise selbst das Tote, sei es ein Berg, ein Hain, ein Fluß oder was auch immer, menschliche Züge; und entsprechend wird alles Subjektiv-Innerliche zum körperlich faßbaren äußeren Objekt, weil sich ja nicht nur die Liebe, die Weisheit, die kriegerische Gesinnung […], sondern die ganze Welt des Geistes, der Gefühle, der Triebe, des Willens in gegenständlich erscheinenden, göttlichen Gestalten und Ereignissen spiegeln, von ihnen inspiriert werden und letztlich in ihnen ihre tiefste Wurzel finden. Viertens: Das Mythische unterscheidet einen profanen Raum und eine profane Zeit von einem transzendenten Raum und einer transzendenten Zeit. Im profanen Raum und der profanen Zeit spielt sich das Leben der Sterblichen ab; im transzendenten oder heiligen Raum und in der transzendenten oder heiligen Zeit vollziehen sich jene göttlichen Ereignisse, die alle profanen in der durch die Punkte 1 bis 3 gekennzeichneten Weise mit ihrer Substanz durchdringen. (S. 125f, kurs. im Orig.)
In der transzendenten Zeit habe der Mythos eine geschlossene Form, das heißt eine linear ablaufende und endliche Ereignisfolge, in der profanen Zeit aber ist jene Ereignisfolge wiederholbar. Da nun, beispielsweise bei kultischen Veranstaltungen, die transzendente Zeit in der profanen Zeit durchschimmert, erhält sie hier eben aufgrund ihrer Wiederholbarkeit den Charakter des Ewigen.
Für den Mythos ist es nämlich immer identisch dasselbe Ereignis, das sich vor unseren Augen abspielt - es ist immer wieder der, nicht ein (der soundsovielte) Tag, der, nicht ein (der soundsovielte) Frühling, die wird beobachten. […] Es handelt sich also hier um ein an sich ewig gleiches, aus Sicht der Menschen jedoch in das Medium der profanen Zeit zwar hineinwirkendes, gleichwohl nicht darin einzuordnendes Ereignis. (S. 130, kurs. im Orig.)
So geht einerseits das Sterbliche seinen irreversiblen Gang, aber in mythischer Sicht wirken in ihm unveränderliche Urereignisfolgen samt dem ihnen eigentümlichen Rhythmus und Tempo. (S. 135)
aus: Hübner, Kurt (1994): Die zweite Schöpfung: das Wirkliche in Kunst und Musik. München.
Elke Mader
Siehe hierzu Elke Mader - Mythen