Ethnologisches Lesen ist kritisches Lesen. Folgende Fragen sind Grundlage jeder Quellenkritik:

Texte transportieren nie allein einen gewissen intendierten Inhalt, sondern sind in ihrer Eigenschaft als kulturelle Dokumente zumeist unbewusster und ungewollter Ausdruck ihres gesellschaftlichen Kontexts. Kernmetaphern und Symbole, die den Subtext bilden, entstammen der spezifischen Entstehungszeit und dienen als Indizien für den sozialen Code, dem der Verfasser unterworfen ist. Wichtig ist zudem, dass die dem Forscher begegnende Sprache keine Abbildung der Wirklichkeit und kein wertefreies Medium ist, sondern bereits Interpretation. Grundsätzliche Eins-zu-Eins-Übersetzbarkeit ist nicht möglich. Der ethnologische Forscher kann beim Rezipieren eines Textes zunächst kontextfrei lesen und sich allein mit dem Inhalt auseinandersetzen, während er danach kontextuell und systemisch vorgehen könnte.

Die Analyse eines Texts sollte denselben Kriterien wie die Feldforschung folgen. Der Forscher sollte nicht vorgeben, vorurteilsfrei zu sein, sondern sich seines eigenen sozialen und zeitlichen  Kontexts und seines Vorverständnisses bewusst werden. Die Einsicht, selbst "Kind seiner Zeit" zu sein, folgt dem Anspruch wissenschaftlich korrekter Zurückhaltung. So gibt es nur Lesarten und keine absoluten Wirklichkeitswahrnehmungen.